Als erster Staat der Welt hat El Salvador Bitcoin als offizielles Zahlungsmittel eingeführt. Welche Folgen das für das Land und seine Bewohner bedeutet, kann niemand mit Gewissheit sagen. Nur eines ist sicher: Ein Zurück gibt es nicht.
Die Gänge sind schmal und verwinkelt. Bunt leuchten die Farben der Röcke, Tücher und Kleider in den Auslagen der Marktstände, die sich hier dicht an dicht drängen. Von überall dringen laute Stimmen, die reden, feilschen, rufen. Dazu der allgegenwärtige fiepsig-blechernen Sound von bunt blinkendem Plastikspielzeug. Die Markthalle Sagrado Corazon im Herzen San Salvadors ist ein neonerleuchtetes Labyrith aus Wäsche, Essen und Alltagswaren und Melvin David Hernandez Esquivel ist Teil von ihr. Auf der Suche nach Kundschaft durchstreift der 35-jährige jeden Tag ihre Gänge. Aus seinem schiefen Bauchladen heraus verkauft er Kaugummis, Bonbons und kleine Tütchen mit Nüssen. Um die 40 Dollar Umsatz macht er damit am Tag. Doch seit einigen Wochen verdient er etwas mehr. Seit er seine Waren nicht mehr nur für Dollar, sondern auch für Bitcoin verkauft. „Ich habe das als Chance gesehen, ein bisschen was zusätzlich zu verdienen“, sagt er.
Auf dem größten und zentralen Markt der Hauptstadt El Salvadors gehört Melvin damit zu den Pionieren, doch ein Einzelfall ist er nicht. Landesweit akzeptieren immer mehr Unternehmen das digitale Geld – Restaurants, Schuhläden, Taxifahrer, Kinos, Fast Food-Ketten, Tankstellen, Straßenhändler. Sie müssen es sogar. Vorausgesetzt sie verfügen über die notwendige technische Infrastruktur. So will es das Gesetz, mit dem der kleine mittelamerikanische Staat das digitale Geld vergangenes Jahr als erstes Land der Welt als offizielles Zahlungsmittel eingeführt hat. Eine Maßnahme, die der mit seinen 40 Jahren vergleichsweise junge und digital-affine Präsident Nayib Bukele in rasantem Tempo umgesetzt hat und die für alle überraschend kam: für die Bitcoin-Community im Netz ebenso wie für die internationale Staatengemeinschaft, die Weltbank oder den Internationalen Währungsfonds. Dabei hat Bukele einen guten Grund für diesen Schritt: finanzielle Inklusion. 70 Prozent der Bevölkerung El Salvadors sind bislang unbanked, haben also kein Konto und damit kaum Zugang zum nationalen und internationalen Zahlungsverkehr. Langfristige Investitionen, zum Beispiel in die eigene Altersvorsorge, sind für sie sehr viel schwieriger. Wer all sein Geld nur bar und jederzeit zur Hand hat, gibt es in der Regel auch schnell wieder aus.
Doch so hehr dieses Ziel auch sein mag, so weckte das Tempo, mit dem der Präsident dem Land das neue, fremde Geld aufgebürdet hat, bei vielen Salvadorianern ungute Erinnerungen. Schon einmal, 2001, wurden sie auf ähnliche Art vor vollendete Tatsachen gestellt, als die Regierung den US-Dollar als Währung einführte. Eine Entscheidung, die nicht nur das Ende des salvadorianischen Colón bedeutete, sondern die vor allem zu Lasten der einfachen Leute ging. Die, die nicht ordentlich lesen, schreiben oder rechnen können – damals immerhin fast jeder Dritte – und die, die ohnehin wenig hatten. In einer Umfrage ein Jahr nach der „Dollarisierung“ beklagte die Mehrheit der Salvadorianer, dass sich die eigene finanzielle Situation verschlechtert habe. In einem Land, in dem die Armut zwar zurück geht, aber auch heute noch mehr als jeder Fünfte mit weniger als fünfeinhalb Dollar am Tag auskommen muss und jeder Zehnte nicht richtig lesen und schreiben kann.
Dass nun die erneute Einführung eines neuen Geldes – dieses Mal sogar eines, das man nicht einmal mehr in die Hand nehmen kann, weil es nur noch digital auf dem Smartphone existiert – von heftiger Kritik, Demonstrationen und Protesten in der Bevölkerung begleitet wurde, verwundert nicht. Verdammte Laborratten sei man, sagen die Kritiker. Dass davon eh wieder nur die Wohlhabenderen profitieren würden und dass man das Geld besser in Bildung, Infrastruktur oder die Befriedung des von brutaler Gewalt geprägten Landes gesteckt hätte.
Ein kleines Land am Pazifik im Fokus der Weltöffentlichkeit
Auf internationaler Ebene wird das Bitcoin-Experiment ebenfalls mit Skepsis betrachtet. Auch weil man nicht weiß, welche Absichten die zwar demokratisch gewählte, aber populistische und zunehmend autokratisch agierende Staatsführung insgeheim womöglich noch verfolgt und welche Konsequenzen sich daraus ergeben könnten. Sollte El Salvador dank Bitcoin seine unmittelbare Abhängigkeit vom US-Dollar überwinden, gingen Sanktionsmöglichkeiten und damit letztlich auch Einfluss der Staatengemeinschaft verloren. Ein womöglich folgenschwerer Präzendenzfall. Nicht nur westliche Demokratien beobachten genau, was derzeit mit Bitcoin in El Salvador passiert. Die ganze Welt schaut auf das kleine Land in Mittelamerika. Auch Despoten, Tyrannen, Theokraten und Diktatoren.
Doch dann gibt es eben auch Optimisten wie Melvin, die eher die Vorteile als die Nachteile sehen. Im trubeligen Tagesgeschäft auf dem Sagrado Corazon zeigt er auf ein Schild an seinem Bauchladen. Darauf steht, dass er zwar Bitcoin-Zahlungen akzeptiert, allerdings erst ab einem Mindestumsatz von einem Dollar. Statt nur ein Tütchen mit Erdnüssen verkauft er dadurch nun immer gleich mindestens vier, wenn jemand etwas mit Bitcoin bezahlt. Ein Viertel seines täglichen Umsatzes mache er mittlerweile mit dem digitalen Geld. Tendenz weiter steigend. Denn zum einen besuchen seit Neuestem viele neugierige Bitcoiner aus der ganzen Welt das Land, um zu sehen, wie gut oder schlecht das Bitcoin-Experiment läuft. Zum anderen stellt der Staat jedem Salvadorianer ein Bitcoin-Startguthaben im Wert von 30 Dollar zur Verfügung. Und egal ob Touristen oder Einheimische – wer das Bezahlen mit dem digitalen Geld ausprobieren möchte, braucht Leute, die es auch annehmen. Leute wie Melvin. Der schwankende Wert von Bitcoin macht ihm dabei keine Sorgen. „Ich habe gelernt, dass ich geduldig sein muss und sehe Bitcoin als langfristiges Investment“, sagt er und nickt zuversichtlich. Immerhin kenne der Kurs historisch und über einen langen Zeitraum betrachtet nur eine Richtung: aufwärts.
Gewalterfahrung ist Teil des Alltags
Rosario, die ihren Nachnamen und ihr Alter lieber nicht nennen möchte, kann Melvins Optimismus nicht teilen. Zu ihrem Stand auf dem Mercado De Mejicanos im Norden San Salvadors, wo sie einfache Dinge des alltäglichen Lebens verkauft – Papiertüten, eingelegte Bohnen und Gewürze – verirren sich keine Touristen. Bei ihr kaufen einfache Arbeiter oder Tagelöhner. Leute aus dem Viertel, das als „rote Zone“, also von Banden kontrolliert gilt. Mächtige und brutale Banden, die sich über Schutzgeld und Erpressung finanzieren und sich gegenseitig mit solch rücksichtsloser Gewalt bekämpfen, dass El Salvador zu den Ländern mit der höchsten Mordrate zählt. 2015 kamen hier 105 Morde auf 100.000 Einwohner. Ein trauriger Weltrekord für ein Land, in dem der Bürgerkrieg vor dreißig Jahren zwar zu Ende ging, Gewalt und Sterben aber blieben.
Dementsprechend knapp sind Rosarios Antworten, deren Gesicht wie das vieler Menschen in El Salvador von einem Leben allgegenwärtiger Gefahr gezeichnet ist. Ihre markanten Falten kommen nicht vom Lachen. Sie sind tiefer und betonen ihren argwöhnischen Blick. Eigentlich ist El Salvador ein junges Land. Nur 15 Prozent der Bevölkerung ist älter als 55 Jahre. Doch wie viele andere hier wirkt auch Rosario, als wäre sie vor ihrer Zeit gealtert. Um zu sprechen zieht sie sich tiefer in ihren Stand zurück, wirkt unruhig, schaut sich nervös um. Von Bitcoin habe sie noch nie etwas gehört. Niemand sei vorbeigekommen und habe ihnen hier irgendwas gezeigt oder erklärt. Es interessiere sie aber auch nicht. All ihre Waren kaufe sie mit Cash und alle, die zu ihr kämen, bezahlten ebenfalls ausschließlich bar. Das war schon immer so und werde auch so bleiben.
Cash ist noch immer King
Tatsächlich ist Cash im salvadorianischen Alltag wichtig. Nicht nur für Einkäufe. Wenn an einer roten Ampel plötzlich jemand mit einer geladenen Waffe neben dem Auto steht, ist neben Glück der griffbereite Geldschein die beste und oft einzige Chance, schnell und heil aus der Sache rauszukommen. Doch hat Bargeld auch ein Problem. Es lässt sich nur schwer über weite Entfernungen versenden. Auf genau solche Transferzahlungen aus dem Ausland sind viele Familien in El Salvador jedoch angewiesen. Vor allem aus den USA, in das während des Bürgerkriegs viele Salvadorianer geflüchtet sind. Heute lebt und arbeitet fast ein Drittel der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten und Kanada. Wenn sie Geld an ihre Verwandten ohne Konto zurück in die Heimat schicken, müssen sie dafür Finanzdienstleister nutzen, die sich diesen Service oft teuer bezahlen lassen. Von 100 versendeten Dollar kommen in El Salvador mitunter nur 80 Dollar an. Individuell, aber auch auf nationaler Ebene ein ökonomisch signifikanter Reibungsverlust. Immerhin machen Transferzahlungen aus dem Ausland fast ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts El Salvadors aus.
Bei Bitcoin fallen solch hohe Gebühren nicht an. 100 Dollar lassen sich dank des Lightning-Protokolls, einer alltagstauglichen Erweiterung des digitalen Geldes, die das sichere Bezahlen in Sekundenschnelle ermöglicht, bereits für den Bruchteil eines Cents an jeden Ort der Welt schicken. Eine Kostenreduktion um mehr als 99 Prozent. Der Umstieg auf diese sehr viel effizientere Zahlungsinfrastruktur ist daher sowohl im Interesse des Staates, weil unterm Strich mehr Geld ins Land kommt. Vor allem profitieren davon aber die Menschen, denen dieses Geld zuerst zur Verfügung steht. Ein Vorteil, den viele Salvadorianer nachvollziehen können und Bitcoin trotz seiner Fremd- und Neuartigkeit eine Chance geben. In den ersten Wochen nach Einführung bildeten sich lange Schlangen vor den neuen staatlichen Geld-Automaten, an denen die Menschen Bitcoin und Dollar ein- und auszahlen können. Innerhalb von nur drei Wochen, so verkündete es der Präsident Ende September vergangenen Jahres auf Twitter, hätten bereits 2,1 Millionen Salvadorianer die staatliche Bitcoin-Wallet heruntergeladen. El Salvador seit damit das erste Land der Welt, in dem die Menschen mehr Bitcoin-Wallets als Bankkonten nutzten.
Wie überall auf der Welt, fällt es dabei auch in El Salvador den jüngeren Menschen leichter, das digitale Geld und dessen Möglichkeiten zu verstehen. Sie wachsen bereits mit Smartphones und dem Internet auf, haben weniger digitale Berührungsängste. So besaß auch Nelson Eduardo Martinez Lovo, wie viele seiner Freunde, schon vor der Pandemie ein Konto bei einer Bitcoinbörse im Netz. „Mein Vater schreibt Rechnungen am liebsten noch mit der Hand“, lacht der 24-jährige. Gemeinsam führen sie das Sopón Zacamil, ein großes, helles Restaurant mit dunklen Holztischen auf der Grenze zum Bandengebiet im Norden San Salvadors, in das Einheimische aus der Umgebung zum Mittagessen kommen. Der grüne Leguan, der verschmitzt schauend und mit einem Limettenschnitz in der Hand die Karte ziert, ist die Spezialität des Hauses und auch Nelsons Lieblingsessen. Eigentlich würden sie das auch schon längst für Bitcoin verkaufen, erklärt er, doch warten sie noch auf das dafür notwendige Bezahlterminal. Das kommt aus China, aber die Lieferung verzögere sich immer wieder.
Bitcoin doesn’t fix everything
Solche Beispiele sind Wasser auf die Mühlen der Bitcoin-Skeptiker im Land. Sergio Arauz ist einer von ihnen. Die Regierung macht es investigativen Journalisten wie ihm zunehmend schwer, frei zu recherchieren und kritisch zu berichten. Zu offiziellen Terminen werden mitunter nur noch staatsnahe Medien eingeladen, Regierungserklärungen nur noch per Tweet statt über die offiziellen Webseiten verbreitet. Und der Druck wachse weiter. „Ich hätte nie gedacht, dass der Zeitpunkt kommen würde, an dem ich ernsthaft in Erwägung ziehen müsste, das Land zu verlassen, weil ich Journalist bin. Weil ich anders denke“, sagt Sergio mit ernstem Blick. Doch mittlerweile müssten er und seine Kollegen sich über solche Exit-Strategien Gedanken machen.
Sergio sitzt im warmen Wind, der durch eine offene, zweistöckige Beach-Bar weht. Hinter ihm senkt sich die Sonne über dem Pazifik. Wuchtige Wellen brechen auf den feinen Sandstrand. Hier in El Zonte, wo zwei staubige Straßen das Zentrum eines Surfspots bilden, hat das salvadorianische Bitcoin-Experiment bereits 2019 seinen eigentlichen Anfang genommen. Anders als bei der nationalen Umsetzung wurde am mittlerweile berühmten „Bitcoin Beach“ jedoch niemand gezwungen, Bitcoin zu akzeptieren. Es war ein freiwilliges Graswurzelprojekt. Der Versuch mit Hilfe des digitalen Geldes eine kleine Umlaufökonomie zu schaffen. Ein Community-Projekt von den Menschen für die Menschen, dessen Erfolg jedoch schließlich das Interesse von Entwicklern, Investoren und der Regierung auf sich zog, die es dann auf das ganze Land ausrollte. Ein Fehler, findet Sergio. „Ich bin nicht gegen Bitcoin an sich“, sagt er „sondern gegen die Art, wie es den Leuten im Land aufgezwungen wurde. Überstürzt und per Gesetz.“ Wieso sich die Regierung nicht Zeit genommen habe, die Einführung ordentlich vorzubereiten, fragt er. Mit umfassenden Informationskampagnen und dem Bereitstellen einer verlässlichen technischen Infrastruktur. Wo überhaupt das Geld herkomme, mit dem das Land Bitcoin kauft. „Sie sind für alle Menschen des Landes verantwortlich. Nicht nur für die, die sich den Luxus leisten könnten, sich mit Bitcoin zu beschäftigen“, kritisiert er.
Erster sein um jeden Preis. Alles andere ist zweitrangig.
Von offizieller Seite heißt es dazu ganz pragmatisch, man wollte eben unbedingt erster sein. Geschichtsbücher kennen keinen zweiten Platz. Das große Ziel sei es, El Salvador zum digitalen Pionier des Kontinents zu machen. Bitcoin wird dabei als wichtiger Baustein in der nationalen digitalen Agenda gesehen. Abgesehen davon sei das Interesse der Weltöffentlichkeit enorm. Man stehe bereits mit mehreren Regierungen in Kontakt. Eine Aussage, die die Kritiker nur umso wütender macht. Das Versuchslabor für die Welt sei man. Die Menschen hier hätten aber am Ende nichts davon.
Die Positionen der Bitcoin-Befürworter und -Kritiker liegen in El Salvador bislang unversöhnlich und weit auseinander. Dass sie noch zueinanderfinden werden, scheint derzeit unwahrscheinlich. Denn hier in Mittelamerika wird vor allem eines deutlich: Bitcoin ist nicht nur eine gänzlich neue Form von Geld, das Geld der digitalen Revolution. Es ist auch ein Politikum, über das man streiten kann und sogar muss. Denn eine Exit-Strategie gibt es nicht. Bitcoin ist resistent gegen Kontrolle und Zensur. Das ist seine Besonderheit, sein Alleinstellungsmerkmal. Man kann versuchen es zu verbieten, doch verschwinden wird es dadurch nicht mehr. Weder hier in El Salvador noch sonst irgendwo auf der Welt. Die Büchse des Satoshi ist offen. Schließen lässt sie sich nicht mehr.
Diese Reportage ist im Rahmen einer Delegationsreise Ende 2021 entstanden und in gekürzter und redaktionell angepasster Version auch im The Red Bulletin erschienen. Mittlerweile auch auf Englisch.
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